Nicolai Levin

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Neues vom Zopf oder Who the f*ck is Alice?

Nun ist @alicevanwunder also wieder frei. Der Spendenaufruf von @arschhaarzopf war trotz aller Einwendungen und giftigen Kommentare mehr als erfolgreich. Rund dreitausend Euro sind zusammengekommen, am Montag wurde die Strafe bezahlt, und Sandra kam frei.

Ich kenne die Dame übrigens immer noch nicht, ich folge ihr auch nicht auf Twitter, über ihren Charakter und die moralische Bewertung ihres Verhaltens will ich gar nicht urteilen.  Es ist auch so spannend genug. Reichlich Aufregung hat den ganzen Vorgang begleitet – ich finde es erstaunlich, dass die Schwelle zwischen Blogs, Twitter und den „traditionellen“ Medien noch nicht überschritten wurde; mich hätte es nicht gewundert, wenn mir Frau Slomka davon als Kuriosum aus dem Netz erzählt hätte, bevor sie zum Wetter überleitet …

Es kam auch, wie es kommen musste: Nach ihrer Freilassung hat sich @alicevanwunder auf Twitter nicht in der dankbaren Demut verhalten, die einige von ihr erwartet und verlangt hatten.

Diese Enttäuschung ist an sich nichts Neues. Wir wünschen uns ja immer, dass die unverhoffte Wohltat nach so einer tiefgreifenden Lebensprüfung irgendwie eine charakterreinigende Wirkung haben möge und den Betreffenden  zum besseren Menschen macht. Unter den Gönnern und Mäzenen scheint es ganz allgemein den Hang zu geben, dass man mit der Wohltat nicht nur formelle Dankbarkeit, sondern auch genehmes Wohlverhalten kaufen könne. Wir sind enttäuscht, wenn der Junkie, dem wir mittags generös ein Subway-Sandwich spendiert haben, am Nachmittag  nicht umgehend seinen Lebensstil aufgibt, um ein anständiger Mensch zu werden, sondern immer noch Handtaschen raubt für den nächsten Schuss.

Muss Sandra denn dankbar und froh sein? Erinnern wir uns: Nicht sie hat die Netzgemeinde in einer großen Aktion um Hilfe gebeten, das haben Christian Franke und Matthias Sachau initiiert. Sie hat es „billigend in Kauf genommen“ – wie es die Juristen so grässlich formulieren -, dass man sie mit Spendengeldern aus dem Gefängnis freigekauft hat. Es ist ein bisschen wie bei der Hochzeitsfeier, die die Brautleute notgedrungen von den Eltern bezahlen lassen – und dann dürfen sie die Feier nicht so gestalten, wie sie wollen, weil der Zahlepapa seinen Geschmack geltend macht. Da wächst Frustration auf beiden Seiten, in vielen Familien kommt es zum Streit – und so mutatis mutandis auch hier.

Natürlich haben die zahlreichen Missgünstlinge im Netz nur darauf gelauert, dass der ersehnte Fehltritt kommt. Sie sind nicht enttäuscht worden. Das ist für @alicevanwunder vielleicht die weitestreichende Konsequenz: Ob sie will oder nicht, sie ist jetzt berühmt. Vermutlich hat sie es gar nicht so richtig mitbekommen, was abging, während sie ohne Handgerät im Knast saß. Ich will sie nicht zur Katharina Blum von Twitter machen – aber sie steht jetzt unter verschärfter Beobachtung, und es wird immer einen geben, der ihr die Worte im Tweet umdreht, um sie gegen sie zu wenden. Ein hübsches Kleidungsstück irgendwo entdeckt und drüber getwittert? – „Oh, schaut nur die eitle Verschwenderin! Erst sich aus dem Knast betteln lassen und jetzt nur noch Shopping im Kopf!“ Im Grunde brauchte sie jetzt die Unterstützung von PR-Krisen-Profis, die ihr genau einflüstern, wann sie was an wen kundtun sollte. Oder sie muss die Twitterblogosphäre ganz aufgeben. Kein Spaß.

Und der Zopf? Der musste einiges einstecken für seine Aktion. Einiges davon hat er in seinem Blog (http://arschhaarzopf.wordpress.com) berichtet. Bevor ich hier darüber hinaus über seine Beweggründe und Gefühle ins Blaue spekuliere, hab ich mir gedacht, ich frag ihn einfach selbst. So habe ich ihm heute früh per Mail einen Satz Interviewfragen gesendet. Und er hat prompt (vom Zug aus) geantwortet:

Hat es Sie überrascht, wie die Reaktionen auf den Spendenaufruf ausgefallen sind?

Christian A. Franke: “Nein, eigentlich nicht. Das Thema an sich hat ja durchaus Brisanz. Ich glaube auch nicht, dass es hier eine ‘richtige’ oder ‘falsche’ Position gibt. Ich verstehe die Menschen, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen gegen eine Spende entschieden haben – und freue mich sehr, dass ich genug Menschen zur Mithilfe bewegen konnte.”

Welche Reaktion hat Sie am meisten geärgert?

“Die in Eile gestreuten Falschinformationen. Es wurde zum Beispiel kolportiert, man hätte mit ‘Anwälten’ gesprochen und die ganze Aktion sei illegal. Wer sich allerdings die Mühe macht, zwei Minuten zu recherchieren, bevor er eine sachlich vollkommen falsche Meinung verbreitet, kommt schnell zu einem anderen Ergebnis: Auf die Möglichkeit der Zahlung für Dritte wird auf der Website der Berliner Justiz sogar ausdrücklich hingewiesen.

Wer also vermeintlich fundierte, tatsächlich aber ganz offensichtliche Falschinformationen verbreitet, um seine persönliche Meinung zu untermauern, schadet nicht nur meinem geäußerten Anliegen, sondern schlussendlich auch der eigenen Glaubwürdigkeit.”

Wenn Sie auch mit all den negativen Reaktionen gerechnet haben – wäre es nicht einfacher gewesen, einfach fünf, sechs Freunde anzurufen und die ganze Aktion privat im kleinen Kreis anzuleiern?

Doch, das wäre möglich gewesen, kein Zweifel. Allerdings sprechen für mich zwei gewichtige Gründe dagegen. Für mich hätte das einen schalen Beigeschmack nach dem Motto: ‘Ich weiß, dass Du Geld hast, also spende gefälligst!’

Der andere Punkt ist, dass ich hoffe, dass Sandra etwas aus der enormen Welle der Hilfsbereitschaft lernt. Viele der Spender haben mir lange Mails geschrieben, in denen sie ihre Situation und ihr Verhältnis zu Sandra dargelegt haben. Es waren einige darunter, mit denen sie auf Twitter nichts mehr zu tun hat, die Mehrheit kennt sie nicht einmal persönlich. Wenn Sie Sandras Posts bei Twitter lesen, werden Sie schnell feststellen, dass sie auch durchaus zu harten Urteilen über andere neigt. Wie gesagt: ich hoffe, sie hat etwas daraus gelernt.”

Wie gut kannten Sie Sandra persönlich, als Sie zu den Spenden für ihre Befreiung aufriefen?

“Ich kenne Sandra, seit ich bei Twitter bin, also seit zirka zwei Jahren. Sie war damals mit einem Freund von mir liiert. Bis ich im Februar dieses Jahres aus Berlin weggezogen bin, sahen wir uns recht häufig, bei Parties, bei Freunden etc. Seit meinem Wegzug seltener, ich bin recht viel unterwegs. ”

Haben Sie Sandras Reaktionen im Netz nach ihrer Freilassung überrascht?

“Nein, nicht wirklich. Allerdings glaube ich nicht, dass man aufgrund von ein paar Tweets, die in einer hochgradig emotionalen Situation entstanden sind, sofort ein Urteil fällen sollte.”

Was hat sich für Sie mit der Aktion geändert?

“Ich habe viel Zuspruch und Unterstützung erhalten, was mich sehr freut. Einige der Mails und Gespräche, die durch diese Aktion ausgelöst wurden, haben mich sehr berührt. Die ganze Bandbreite der negativen Kritik bis hin zu hemmungslosen Beleidigungen und Drohungen berührt mich hingegen nicht, ich bin Schlimmeres gewohnt.”

Würden Sie es wieder tun?

“Sie meinen, wenn die Aktion noch nicht stattgefunden hätte? Ja. Vier Monate im Gefängnis hätten eine vernichtende Wirkung auf die Zukunft dieser Frau gehabt. Das zuzulassen widerstrebt mir vollkommen.”