Nicolai Levin

Nicolai Levin

Udo Jürgens Live

Wir stehen in der Schlange und warten auf den Einlass. Es ist Nachmittag, vor einer knappen halben Stunde sind wir angekommen, Sophia und ich. Unsere Position ist gar nicht so schlecht: Ganz vorne die Hardcorefans, die bereits seit dem frühen Morgen warten, werden vielleicht zwei oder drei Reihen belegen, und dann kommen schon ziemlich bald wir, wahrscheinlich vierte Reihe oder so, wir werden es hautnah erleben und vermutlich gibt es auch geile Bilder.

Das Warten ist öde, aber es gehört eben zu Konzerten dazu, genau wie die Erschöpfung hinterher und das Pfeifen in den Ohren am Tag danach.

Mit dem Mädchen vor uns sind wir ins Gespräch gekommen, als Sophia aufs Klo musste und wir mit den Leuten unmittelbar vor und hinter uns abgeklärt haben, dass es okay ist und sie ihren Platz in der Schlange nicht verliert, weil sie weggeht. Alle waren nett und entspannt.

Das Mädchen vor uns heißt Lea, und sie kommt aus Duisburg. Dass wir bis aus Stuttgart angereist sind, findet sie beeindruckend Nein, es ist nicht so, dass wir Superfans wären, aber wir wollten den Act sehen und näher bei uns zu Hause gab es eben keinen Gig. Wir erzählen von anderen Konzerten und zeigen Handyvideos. Das Weiteste, was ich gefahren bin, war Coldplay in Zürich, mit Übernachten. Lea war bei Green Day und hat Harry Styles in London gesehen, das ist natürlich sehr geil, sie war aber erst fünfzehn damals, sagt sie, und ihr großer Bruder musste mit.

Lea sieht ziemlich cool aus, sie trägt eine abgeschabte Vintagelederjacke, einen pechschwarz glänzenden Bob, hat einen Glitzerstein im Nasenflügel, ziemlich viel Puder im Gesicht und violetten Lippenstift. Sie kann die Füße nicht stillhalten und tänzelt immer um uns herum, die übliche Aufgekratztheit vor Konzerten eben oder vielleicht hat sie auch noch was eingeworfen, wobei das ziemlich dumm wäre – wer will schon in der Warteschlange high sein?

Was sie auch noch gut findet, sagt Lea, sind so Sachen, die einen in Stimmung bringen, die Toten Hosen, oder auch Schlager. Auf Griechischer Wein geht sie ja total ab. Sophia nickt, ja, kann sie nachvollziehen, Udo Jürgens ist echt unterschätzt. Ich stimme zu, wir hatten Udo Jürgens sogar mal in der Schule in Musik, wir haben die Noten angeschaut, der hat echt clever komponieren können.

Griechischer Wein live, das wärs, sagt Lea, das ist noch ein unerfüllter Traum von ihr. Sie muss unbedingt mal checken, wann Udo Jürgens in Deutschland auf Tour ist, da geht sie dann sicher hin. Sophia und ich schauen uns an. Ich merke, wie Sophia ein Kichern unterdrückt. Udo Jürgens ist tot, sagt sie dann vorsichtig, also, glaub ich jedenfalls. Ich nicke. Bestimmt fünf Jahre schon, fügt Sophia hinzu. Ich suche auf dem Handy bei Wikipedia, es sind sogar zehn Jahre, 2014 ist er gestorben.

Lea ist total geknickt. So ein Scheiß, sagt sie, dann werde ich Griechischer Wein nie live hören. Jedenfalls nicht von Udo Jürgens, sagt Sophia.

Andrea Giovene: “Die Autobiographie des Giuliano Sansevero” – 5 Bände, 5 Sterne

Feb 2024 – Als Andrea Giovene 1966 den ersten Band der “Autobiographie des Giuliano Sansevero” herausbrachte, war er ein literarisch Unbekannter, Sohn einer Herzogsfamilie, Zeitungsredakteur, Antiquitätensammler, der bis dahin lediglich ein Büchlein über Typografie veröffentlicht hatte und eines mit einer Übersetzung von Catull. Bis 1970 erschienen alle fünf Bände der Lebensgeschichte, und sie waren in Italien ein literarisches Ereignis. Giovene erhielt 1969 den Goldenen Adler beim Literaturfest von Nizza und ein Kritiker schlug ihn sogar für den Literaturnobelpreis vor. Mehrere Übersetzungen folgten, merkwürdigerweise keine ins Deutsche. Die kam erst nach dem Tod des Autors 1995 in die Wege, und nun hat der Galiani-Verlag in den letzten anderthalb Jahren alle fünf Bände in der fulminanten Übertragung von Moshe Kahn in Deutschland veröffentlicht.

Band eins: Ein junger Herr aus Neapel

Die Lebensgschichte eines Mannes aus einer uralten süditalienischen Adelsfamilie, die verarmt ist und ihre beherrschende Stellung verloren hat. Aha!, rufen alle, der Leopard!

Andrea Giovenes monumentale, fünfbändige Erzählung der “Autobiographie des Giuliano Sansevero”, speziell der erste Teil, tut sich in der öffentlichen Wahrnehmung schwer mit den erdrückenden Vorurteilen und der Enttäuschung derer, die dann doch keinen zweiten Aufguss des “Leoparden” von Tomasi di Lampedusa vorfinden.

Denn Giovenes Erzählung ist ganz anders. Nicht spöttisch und distanziert, sondern geradlinig und aufrichtig. Sein Held, Alter Ego seines Schöpfers, wird durch die wilden Zeiten des zwanzigsten Jahrhunderts gespült und sucht nach dem richtigen Leben. Giovene ist insofern vielleicht näher bei Petrarca und Dante und Augustinus als bei Tomasi und den anderen italienischen Nachkriegsautoren. Zugleich scheint er seiner Zeit voraus mit seinem konsequent autobiografischen Thema. Aber egal, ob zu früh oder zu spät: Als der “Sansevero” Ende der 1960-er Jahre erschien, war er trotz seines Erfolges in literarischen Kreisen fürs ganz große Publikum einfach nicht zeitgemäß genug. Die Lebensbeichte eines alten Konservativen aus großer Familie in geschliffenem Italienisch wollte damals zunächst keiner lesen, zu jener Zeit hatte man jung und rebellisch und proletarisch zu sein!

Der Bezug zu Tomasis Leoparden lässt sich nachvollziehen, denn speziell im ersten Band “Ein junger Herr aus Neapel” spitzt das Wesen und das wahre Gesicht des Gesamtwerks noch nicht so richtig durch. Wir erfahren von der Familie Sansevero aus Neapel, der Vater hat den Herzogstitel geerbt und schafft es, als Architekt und Bauunternehmer den unvermeidlichen Niedergang der Familie noch einmal aufzuhalten. Er verdient viel Geld, so viel, dass es fast reicht, den aristokratischen Lebensstil mit rauschenden Festen, Diners und einer ganzen Reihe von Hausangestellten zu finanzieren – und die Leidenschaft fürs Kunstsammeln dazu. Der kleine Giuliano lernt sich in dem komplexen Familiensystem mit Geschwistern, Onkeln, Tanten, angeheirateten Cousinen, unverzeihlichen Fehltritten und schwarzen Schafen zurechtzufinden.

Er lebt sehr zurückgezogen im elterlichen Palazzo, bis der Vater beschließt, ihn ins Internat zu geben. Im Benediktinerkonvent lernt er die Einordnung in strenge Abläufe und Hierarchien, doch seine Intelligenz erlaubt es ihm, dort einigermaßen zurechtzukommen. Nach vier Jahren wird er zurückgeholt und besucht die höhere Schule in Neapel, begegnet erstmals “normalen” Leuten aus bürgerlichem Milieu, und der Vater überträgt ihm als Jüngling die unerfüllbare Aufgabe, seine Firmen zu führen, während er selbst auf Reisen ist. So erkennt Giuliano aber die finanziell hoffnungslose Situation, zumal eine Tante ihr erhebliches Vermögen ihrem Liebhaber zukommen lässt statt der Familie – und die erhoffte Rettung ausbleibt.

Giovene schreibt elegant und klug. Er ist ein feiner Beobachter, die Hintergründe der Zeit (der erste Weltkrieg aus italienischer Perspektive, das Erstarken der Faschisten, die Sympathien des Vaters für Mussolini) werden geschickt verwoben. Insofern liest es sich interessant, auch wenn wir die Internatsleiden Halbwüchsiger und die erste Liebe weltfremder Literaten natürlich schon vielfach anderswo serviert bekommen haben. Als Solitär wäre dieser erste Band nett zu lesen, aber kein Ereignis, aber er dient ja nur als Auftakt für das, was folgt!

Band zwei: Die Jahre zwischen Gut und Böse

Im zweiten Band beginnt sich die Lebensgeschichte des Helden von der seines Schöpfers (soweit ich die auf Wikipedia nachvollziehe) an einigen Stellen zu trennen. In “Die Jahre zwischen Gut und Böse” löst sich Giovene vom Korsett des Authentischen und nimmt sich die Freiheit, die Geschehnisse nach literarischen Notwendigkeiten und persönlichem Gusto zu schildern. Dem Buch bekommt das gut, nach den etwas zögerlichen Kindheits- und Jugendjahren schöpft Giovene hier aus dem Vollen.

Zunächst folgen wir Giuliano Sansevero nach Mailand. Er hat seine Familie ziemlich überraschend verlassen, sein Studium in Neapel war ohnehin reiner Schein. Nachdem er etwas ziellos herumirrt, versucht er, seinen Lebensunterhalt als Journalist zu bestreiten, ein vielversprechendes Zeitschriftenprojekt steht in den Startlöchern. Giuliano ist völlig mittellos und lebt von der Hand in den Mund. Allerdings blockieren politische Hürden den Erfolg, Giuliano Sansevero muss sich für einen Artikel mit dem Portrait des Städtchens Peschiera rechtfertigen, der den faschistischen Kulturbürokraten nicht heroisch genug ausfällt. In seiner kleinen Pension lebt er Tür an Tür und dicht an dicht mit Prostituierten und Kleinkriminellen.

Als die Zeitschrift endgültig scheitert, empfiehlt ihm sein Onkel, endlich den Militärdienst abzuleisten und so begibt sich Giuliano nach Ferrara am Po, als Offiziersanwärter in einem elitären Kavallerieregiment. Er fügt sich in den Drill und die strenge Alltagsroutine, arrangiert sich mit unangenehmen Vorgesetzten und beginnt eine Affaire mit einer verheirateten Frau, Mavì, mit deren gehörntem Ehemann er sich sogar standesgemäß duelliert.

Alles wäre bereit für eine klassische Karriere in der Armee, doch Giuliano entscheidet sich dagegen und geht stattdessen nach Rom, wo er in seltsame Kreise gerät: Im dubiosen Palazzo Grilli bezieht er ein Zimmer, seine Mitbewohner sind bohèmehafte Aristokraten, Kunsthistoriker, Dichter aus aller Herren Länder. Giuliano wird in philosophische Diskussionen gezogen und findet sich in merkwürdigen Dreieckskonstellationen wieder – erotischer und intellektueller Natur. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit Übersetzungen und dem Ghostwriting für akademische Abschlussarbeiten der unterschiedlichsten Fachrichtungen. Er spürt, wie ihm die negativen Einflüsse seiner Umgebung zusetzen und ihn abarbeiten und flieht schließlich nach Paris.

Hier findet er ein bequemes Auskommen als Cicerone für eine Gruppe peruanischer Millionärssöhne und verlebt sorglose Zeiten. Er hat eine Beziehung zu einer englischen Schauspielerin und genießt das pulsierende Paris der Zwischenkriegszeit. Als die Peruaner wieder nach Hause müssen und Giulianos Vater stirbt, reist er nach Neapel zurück.

Wer den zweiten Band von Giovenes “Autobiographie” liest, wird nicht mehr auf den Gedanken kommen, ihn mit Tomasis “Leoparden” zu vergleichen. Jedes der fünf Kapitel, jede Station ist eine Geschichte für sich, auch der Stil und selbst der Charakter des Giuliano scheint jedesmal ein anderer zu sein. Der aufstrebende Journalist aus Mailand, Kind seiner Zeit, wird zu dem jungen Offizier aus altem Hause, bei dem ich an Joseph Roths Familie Trotta denken muss oder an die armen Teufel bei Stefan Zweig und Arthur Schnitzler, seltsamerweise alles Gestalten aus Kakanien. Die schwüle Atmosphäre Roms im Palazzo Grilli lässt an Angelsächsisches denken: Henry James kommt in den Sinn oder E. M. Forster – grübelnde Gestalten in einer götterdämmerlichen Stimmung. Ganz anders Paris, das frisch lebt und lärmt, ein hedonistisches turbulentes Paradies. Und am Ende entkommt Giuliano doch nicht dem Familienschicksal und landet wieder im Neapel seiner Onkel, Tanten und Vorväter an.

Angelehnt an die Lebensstationen Giovenes finden wir hier unzweifelhaft eine ganze Menge an literarischer Formung und Gestaltung. Viel Reflexion, aber keine Thesen, das Thema ist die Suche nach dem geeigneten, nach dem richtigen, dem glückversprechenden Leben des Helden. Immer wieder erliegt er dem Idealbild einer Frau, das dann von der schnöden Wirklichkeit verwischt wird. Er hat kein Ziel, kein Ideal, er treibt von Station zu Station, schöpft aus den Facetten des Lebens und vielfältigen Begegnungen, die er reflektiert und verarbeitet. Giovene weigert sich, diesem Heldenleben ein Motto zu geben, ein Thema, ein erklärtes Ziel – und darin liegt eine eigene Methode, eine Philosophie der Demut, eine quasi augustinische Proklamation des eigenen Scheiterns und permanenten Neubeginns. Und das auf bemerkenswertem stilistischen Niveau.

Band drei: Das Haus der Häuser

Der dritte Band der Autobiografie des Giuliano Sansevero fällt ein bisschen aus der Reihe, da er eine räumlich und zeitlich klar abgeschlossene Episode umschreibt.

Wir schreiben das Jahr 1933. In Italien kein so großes Umbruchjahr wie bei uns. Giuliano hat völlig unverhofft von einem Onkel Ländereien in Kalabrien geerbt. Als er sie besichtigt, kommt er auch zu einem ausgedehnten Hain von Olivenbäumen in dem abgelegenen Dörfchen Licudo, das nur per Meer oder über einen schmalen Maultierpfad zu erreichen ist. Hier, weit ab von allem, beschließt er, sich niederzulassen und innerhalb von sechs Monaten das titelgebende ‘Haus der Häuser’ zu bauen. Doch in dem verschlafenen Fischer- und Bauerndorf ticken die Uhren anders: Steine sind knapp, Arbeitskräfte und Transportesel auch. Aus den sechs Monaten werden fünf Jahre, in denen Giuliano, den sie in ihrem kalabrischen Dialekt “Don Giulì” nennen, den Fortgang der Bauarbeiten beobachtet und in den Mikrokosmos des Dorfes eintaucht.

Bald muss er erkennen, dass in dem Maße, in dem er von den Dorfbewohnern akzeptiert wird, er selbst Bestandteil dieser Dorfgesellschaft wird, die bei näherem Hinsehen von ihrer naiven Idylle verliert und die ganz normalen komplexen Konflikte und Probleme bereithält, die menschliches Zusammenleben eben so mit sich bringt.

Dazu trägt auch Giuliano selbst bei, der einige Leute unterstützt (andere nicht) und sich der Faszination eines sehr, sehr jungen Mädchens (zu Beginn ist sie elf) hingibt. Kannte Giovene eigentlich ‘Lolita’? Bestimmt kannte er ‘Lolita’! Zu sehr ist die gefährdete Unschuld des schönen Kindes hier symbolhaft und passend platziert.

Ebenso symbolbeladen das Ende: Als das Haus fertig ist und zugleich – nach vielen Jahrzehnten kommunalpolitischen Zankes – das Dorf eine richtige Zufahrtsstraße erhält, bricht das ökonomisch-soziale Gleichgewicht in Licudo zusammen. Die Grundstückspreise spielen verrückt, das Dorfgefüge wird in den Grundfesten erschüttert, und als die deutschen Nazis noch eine KdF-Erholungssiedlung an den Ortsrand bauen, schwappt der Tourismus in einer brutalen Welle über das erschrockene Süditalien.

Giuliano hat es gut, der ist vergleichsweise reich und kann seiner Wege ziehen …

Wie gesagt, dieser dritte Band ist besonders: Die persönliche Entwicklung des Helden steht hier weniger im Vordergrund als das Schaustück, die Zerstörung des Paradieses, das nie eines war. Ich war zu Beginn sehr skeptisch, ob ich mehrere hundert Seiten um den Bau eines Einfamilienhauses lesen wollte, aber diese Sorge hat sich als komplett unbegründet herausgestellt.

Band vier: Fremde Mächte

Der vierte Band behandelt ziemlich genau die Zeit des zweiten Weltkrieges; anhand der Lebensdaten des Autors sieht es so aus, als würden sich dieses Mal zumindest die Stationen in der Vita von Andrea Giovene und die seiner Romanfigur weitestgehend decken. Eins ist jedenfalls klar: Wir bewegen uns hier weit, weit weg vom lampedusischen Schwanengesang auf altsizilianische Adelsdynastien oder dem Erinnerungsklauben à la Proust.

Vier Stationen sind es, denen Giuliano nach seiner Einberufung als Reserveoffizier begegnet.

Zunächst leistet er Dienst in der Heimat bei seiner alten Kavallerieeinheit, die zu etwas diffusen Bewachungsaufgaben in der Emilia Romagna stationiert ist. Er muss sich nach vielen Jahren fern des Militärs erst wieder an den Gestus und den Mikrokosmos der Armee gewöhnen. Bezugspunkt sind dabei seine vorgesetzten Offiziere und die inneren Kämpfe, die er mit ihnen ficht.

Trotz einer Augenverletzung, deretwegen ihm ärztlicherseits der Dienst im Ausland erspart bleiben könnte, geht er mit seiner Einheit nach Griechenland, als sie dorthin verlegt wird – mehr aus Verantwortungsbewusstsein seinen Untergebenen gegenüber denn aus patriotischem Hochgefühl. Hier erlebt er den drôle de guerre einer Besatzungsmacht. Giulianos Sorgen sind von praktischen Dingen geleitet: Seine Einheit findet sich räumlich weit verstreut (die Männer müssen eine Eisenbahnlinie im Gebirge vor Partisanenangriffen schützen), schon die Versorgung mit Lebensmitteln bildet eine hohe Kunst, wenn Giuliano nicht darauf zurückgreifen will, die Zivilbevölkerung auszuplündern. Griechenland, das für den Schöngeist Sansevero in erster Linie aus antiken Stätten besteht, bleibt ihm als Besatzer verborgen, wie überhaupt die unübersichtliche politische Lage das Zurechtfinden erschwert. Wer von den wackeren Dorfbewohnern spioniert für die Partisanen? Wer aus dem italienischen Hauptquartier plant nur, sich abzusetzen? Je prekärer die Kriegssituation für die Achsenmächte wird, desto mehr hüllt sich seine Umgebung in Masken, Täuschung und Trug.

Als die Italiener im September 1943 im Weltkrieg die Seiten wechseln und einen Waffenstillstand mit den Alliierten erreichen, ändert sich die Lage. Die Deutschen übernehmen Griechenland im Handstreich und die enorme italienische Besatzungsmacht steigt bereitwillig in die Züge, von denen die Soldaten glauben, dass sie in Richtung Heimat fahren, wo in Wahrheit als Ziel die deutschen Internierungslager warten. Damit sind wir bei Station drei.

Hier wirds fürs geschichtsbeflissene Publikum spannend. Mir zumindest war die Situation der Italiener nie so richtig bewusst gewesen – über Frankreich und Skandinavien gibt es ja Dutzende Kriegsdramen in Buch, Film und Serie, der italienische Lauf der Dinge hingegen blieb (jedenfalls bei mir) dem interessierten Laien immer etwas unterbelichtet. Die Situation der Italiener in Deutschland war nämlich sehr speziell: Der von den Deutschen befreite Mussolini hatte einen faschistischen Rumpfstaat errichtet, der weiter auf deutscher Seite stand; während das antifaschistische Italien sich im Süden von den Alliierten befreit fand – oder im Norden bei den Partisanen im Widerstand lag. Als Italiener in deutschem Gewahrsam musste man also Farbe bekennen: Wer sich für Mussolini entschied, den schickte man umgehend nach Italien zum Kämpfen, wer (wie Giuliano Sansevero) erklärte, mit den Faschisten nichts am Hut zu haben, blieb in Deutschland interniert, aber nicht etwa als regulärer Kriegsgefangener, sondern eben in einem seltsamen Zwischenstatus als abtrünniger ehemaliger Verbündeter. Die wurden zwar von den Nazis misstrauisch bewacht, aber doch höher gehalten und pfleglicher behandelt als diejenigen Gefangenen (etwa die sowjetischen), die als Futter für die Vernichtungsmaschinerie herhalten mussten.

Sansevero erlebt die Zeit im deutschen Lager distanziert von allem. Mit einer stoischen Grundhaltung erträgt er, was er an Nahrungsmangel und stundenlangem Appellstehen ertragen muss, in dem Wissen, dass es anderen viel, viel schlechter geht. Er hält sich auch von den Kameraden eher fern, flieht in literarische Arbeit, schreibt auf mühsam beschafftem Papier Abhandlungen über biblische Themen. Nach einigen Wochen in der Festung von Lwiw/Lemberg und einigen Monaten in der unendlichen Monotonie eines Internierungslagers in der Lüneburger Heide meldet er sich im Herbst 1944 zum Arbeitsdienst und findet sich mit einer kleinen Gruppe von Offizieren in einem Sägewerk im Wendland, wo er sozusagen als Arbeiter für den Familienbetrieb fungiert. Er wird dort anständig behandelt und gut verpflegt, aber bei einem alliierten Luftangriff trifft ihn ein Splitter am Kiefer und verletzt ihn schwer.

Ein völlig absurder Zufall, wie er im Krieg alltäglich zu sein scheint, bringt ihn schließlich im März 1945 aus seinem Dorf, das sich von einer Vorhut der Amerikaner schon befreit glaubte, in den Gewahrsam eines deutschen Hauptmanns, der mit einem Trupp Soldaten und einer Handvoll Gefangener nach Berlin befohlen wurde, um sich im Endkampf der Roten Armee entgegenzustellen. Unversehens gerät Sansevero wieder in die Mühlen des Krieges; der Offizier verlangt ihm sein Ehrenwort ab, dass er nicht fliehen wird, und so muss er mit in den Strudel, weniger seiner Ehre wegen, als mehr, weil er in innerer Bockigkeit nicht das Vorurteil des Offiziers befördern will, dass der treubrüchige Itaka ja sicher bei erster Gelegenheit davon sein wird. Nach Zerschlagung der Einheit irgendwo im Grunewald macht sich Giuliano in den allerletzten Kriegstagen auf abenteuerlichen Wegen schleunigst zurück, um (als Italiener! und Offizier! und Adliger!) nicht den rachsüchtigen Sowjets in die Hände zu fallen. Er erreicht unter großen Mühen das Wendland, findet dort anarchische und apokalyptische Verhältnisse vor, alle Bezugspunkte sind zerstört und alle seine Kontakte tot oder verstreut. Schließlich gelangt er über ein Sammellager in Garmisch mit dem Zug wieder zurück nach Italien. Der Krieg ist zu Ende und das Buch ist aus.

Erzählstil und Duktus unterscheiden sich deutlich zwischen den Stationen. Während Giuliano zu Beginn noch ausgiebig über seine Vorgesetzten und ihre und seine Rolle in dem absurden Kriegstheater grübelt, muss er zum abenteuerlichen Ende hin nur Leib und Leben retten und in höchster Gefahr seine unmittelbaren Entscheidungen treffen. Da ist keine Zeit mehr für Reflexionen. Dazwischen liegt die Phase des teilnehmenden Beobachtens, des bewussten Zurückziehens auf ein stoisches und gleichmütiges Ertragen der Unbill und der Fährnisse, die sich ihm entgegenstellen.

Ich will nicht verhehlen, dass ich unmittelbar nach dem Ende meiner Lektüre von ‘Fremde Mächte’ enttäuscht war. Nach dem eindrucksvollen Exkurs des Vorgängerbandes (‘Das Haus der Häuser’) hatte ich wohl damit gerechnet, dass Giovene die Deutschen der Nazizeit mit der gleichen Subtilität und Scharfsichtigkeit seziert, mit der er seine süditalienischen Dorfbewohner und ihr Verhältnis zueinander zerpflückt hat. Schuld, Sühne, Begeisterung, Mitläufertum, Reue, Widerstand – all das mit dem unverstellten Blick von außen, das wäre grandios gewesen! Aber natürlich kann das nicht gehen. Dafür muss man sich sehr genau auskennen – in Sprache, Gepflogenheiten und Kultur zu Hause sein, und genau das ist Sansevero in Deutschland nicht: Er spricht die Sprache kaum, lebt abgesondert, er kann nur von ferne mutmaßen, was die Deutschen um ihn herum antreibt in ihrem Handeln. Vages Mutmaßen aber ist nicht seine Sache, im Gegenteil: Vor schnellen und oberflächlichen Urteilen und Wertungen hütet er sich, und das ist ja nicht die schlechteste aller Einstellungen, die man so generell zu seiner Umwelt haben kann.

Auch wenn man das Buch neben die großen Werke legt, die sich mit dem Überleben in den Lagern der Nazis auseinandersetzen, etwa von Ruth Klüger oder Imre Kertesz, dann wirkt Giovenes Bericht eher blass. Aber auch das ist kein Wunder, denn als italienischer Offizier, nicht mal als richtiger Kriegsgefangener, ist Sansevero bestenfalls Beifang im Höllenschlund. Er sieht sich nicht dem Hass und der Verachtung der Nazimaschinerie ausgesetzt, er wird nicht gezielt gedemütigt, er steht in keinem Wettlauf zwischen mörderischem Vernichtungswillen und trotzigem Überlebensinstinkt. Er ist kein Opfer der Nazis, sondern eines der Zeitläufte. Entsprechend ordnet er seine Zeit in deutscher Haft auch nur als eine weitere Lebensepisode ein, wie seine Zeit als Kind im strengen Kloster, wo man ihn auch dem Drill anderer ausgesetzt hat und das Essen knapp war und nicht besonders gut. Er widersteht der Versuchung, die Leidenszeit in Deutschland als dramatischen Höhe- und Wendepunkt seiner Vita zu inszenieren, und auch das finde ich eher positiv und sympathisch.

Je mehr ich drüber nachdenke, desto mehr schleicht sich die Idee in meinen Kopf, diese Buchreihe könnte auch wegen all der Dinge bemerkenswert sein, die sie eben nicht ist! Dieser vierte Band jedenfalls war für mich definitiv lohnenswerte Lektüre, die wieder eine ganz neue und andere Facette in die fünfbändige Lebensgeschichte bringt. Für sich allein gelesen würde ich ihn nicht empfehlen, aber das wiederum ist bei Band drei oder vier der ‘Suche nach der verlorenen Zeit’ auch nicht anders.

Band fünf: Der letzte Sansevero

Der fünfte Band der “Autobiografie” schließt direkt ans Kriegsende an. Wieder haben wir fünf Kapitel mit deutlich abgegrenzten Schauplätzen.

Anfangs kommt Giuliano Sansevero nach Rom und findet Anstellung als Aushilfe (Besoldungsstufe 11) im Ministerium für Kriegsfolgen. Er schildert ironisch und amüsiert die Wirren des Nachkriegsitaliens, die politischen Spiegelfechtereien und den schwierigen Umgang der Menschen mit der zwiespältigen Rolle Italiens als faschistische Achsenmacht und zugleich als früh befreiter und dankbarer Verbündeter der Alliierten. Sinnbild dafür ist die Bibliothek, die Giuliano für das Ministerium aufbauen soll und deren Grundstock er im verlassenen Gebäude einer aufgelösten faschistischen Institution findet, von der jetzt niemand mehr etwas wissen will. Man schickt ihn, den politisch Unbequemen, der im stramm kommunistischen Ministerium als einziger kein Roter ist, nach Eboli (jenes Eboli, das bei Carlo Levi, der dafür Giovenes Seithenhiebe einstecken muss, Endstation für Christus war) – in den kriegszerstörten und ausgelaugten Süden, wo er ein Flüchtlingscamp der Amerikaner in einer Sozialwohnsiedlung umwandeln soll.

Im zweiten Kapitel arbeitet Giuliano um 1947/1948 in Neapel als Redakteur des (fiktiven) “Vesuvio Libero” und versucht mit journalistischen Mitteln auf Geheiß seines Chefs gegen die Favoriten der anstehenden Kommunalwahl, eine fatale Allianz aus Baulöwen, Spekulanten und Camorrabossen, anzuschreiben. Er lebt bei seinem Mentor und Onkel Gedeone und sinniert – auch vor dem Hintergrund der Abstimmung über die Abschaffung der Monarchie – viel über die Besonderheiten der italienischen und neapolitanischen Seele, ihre Haltung zum Tod und zur Ewigkeit. Am Ende gewinnen die Spekulanten die Wahl und Gedeone stirbt und Giuliano beschließt, dass er die letzten Jahre nur für die Ideen anderer eingetreten ist und dass das ein Ende haben muss.

So zieht er sich – Kapitel drei – nach Norden zurück, in die Poebene, nach Guastalla, eine Bahnstation entfernt von Brescello, dort also, wo Giovanni Guareschi etwa zur gleichen Zeit seine “Kleine Welt” ansiedelt (das steht freilich nicht im Buch!). Allerdings finden wir wenig von der pittoresken Szenerie der Don-Camillo-Romane, auch wenn Giuliano die Landschaft als sehr schön empfindet. Er beginnt eine Affaire mit einer Arbeiterin, die – mitten in der tiefroten Emilia Romagna – einen ehemaligen Kämpfer der Faschisten zum Mann genommen hat, einen Taugenichts, der von der eigenen Fabrik träumt. Giuliano aber setzt sich hin und schreibt die Geschichte seines Lebens auf, nachdem er sorgsam überlegt hat, wie er sie in literarische Form bringen kann, was er verfremden möchte, welchen Vorbildern er folgen will und welchen nicht. Er lässt das Buch auf eigene Kosten drucken und verschickt es an die Redaktionen, Bibliotheken und die intellektuellen Köpfe des Landes, wartet aber vergeblich auf Reaktion.

Indes erfährt er, dass Mavì, seine einstige (ebenfalls verheiratete) Liebe aus den Militärtagen von Ferrara (Band zwei), gestorben ist und eine Tochter hinterlässt, deren Spur sich nach ihrer Internatszeit in England verliert. Giuliano hat den Verdacht, er könnte der Vater jener Penny sein und fährt nach London – Kapitel vier -, um sie zu suchen. Er quartiert sich im Süden der Stadt in einem Zimmerchen ein und macht sich auf die Suche im nachkriegsversehrten London, das eben erst zart zu swingen beginnt. Ein Privatdetektiv schafft es, über eine ehemalige Mitschülerin tatsächlich, das Mädchen zu finden, das unter Künstlernamen als Mannequin und Fotomodell arbeitet. Giuliano lernt sie kennen und freundet sich mit ihr an, sehr zum Misstrauen ihrer gleichaltrigen Verehrer. Seine Beziehung zu Pennys Mutter gibt er nicht preis, für Penny ist er einfach ein freundlicher älterer Italiener, der sich nach über einem Jahr aus London verabschiedet, als er erfährt, dass Penny von ihrem legalen Vater, der ebenfalls gestorben ist, ein beträchtliches Erbe erhält und so eine gesicherte Existenz hat.

Im letzten Kapitel finden wir Giuliano dann in Sizilien. Die Zeitform wechselt ins Präsens und wir erhalten stimmungsvolle und melancholische Tagebuchnotizen, verstreut über zwei Jahre, in denen Giuliano, der schwach und herzkrank auf den Tod wartet, aus dem abgelegenen Bergdorf berichtet. Ein halbverlassenes Kaff, die Jungen sind nach Amerika, nur der Pfarrer kümmert sich um die Belange der Verbliebenen und liest mit den letzten fümf Nonnen des Klosters, von denen alle bis auf eine uralt sind, die Messe. Den Rest erfahren wir aus vermeintlich offiziellen Dokumenten: Im September 1957 kommt ein großes Unwetter, das den Ort für einige Tage vollends von der Außenwelt abschneidet. Danach ist Giuliano tot (Herzversagen, sagt der Arzt in Corleone), und der Pfarrer und die einzig junge Nonne verschwunden.

Wie reizvoll wäre es, die Motive und Themen gegen das wahre Leben ihres Autors zu legen, der von sich schreibt und doch ganz und gar im Fiktiven bleibt. Während die Berichte aus den Kriegsjahren sich offenbar sehr eng an den Fakten der Vita des Andrea Giovene di Girasole halten, scheint er in diesem fünften und letzten Band einiges verfremdet und verzerrt zu haben – begonnen natürlich mit dem Tod, der seinen Helden im Jahre 1957 mit Mitte fünfzig ereilt, während sein Autor den Erfolg seines epochalen Werkes erleben und auskosten durfte und erst 1995 mit weit über neunzig dahingegangen ist.

Viel wissen wir leider nicht über Andrea Giovene, das über die dürre Verlagsvita hinausgeht. Biografie scheint es keine zu geben, jedenfalls konnte ich keine finden. Der italienischen Wikipedia ist zu entnehmen, dass Giovene wohl tatsächlich unmittelbar nach dem Krieg im Staatsdienst war und danach Vizechef der Zeitung “Mattino“, die in Neapel erscheint. Danach, heißt es, sei er Leiter der neapolitanischen Redaktion der konservativen Tageszeitung “Il Tempo” gewesen – eine Tätigkeit, die er seinem Giuliano nicht zuweist. Später habe er auch in London (aha!) und Deutschland (davon ist wiederum gar nichts im Werk zu finden) gelebt, mit seinem Sohn Lorenzo, einem Anwalt. Einen Anwalt namens Lorenzo Giovene di Girasole gibt es auf Facebook, vielleicht ein Enkel oder Urenkel, kann aber genauso der Fakeaccount eines Fans sein.

Bemerkenswert scheint mir die Sicherheit, mit der er sich literarisch verortet. Er (und mit diesem Er sind sowohl Giuliano Sansevero als auch Andrea Giovene gemeint, die – wenn nicht alle inhaltlichen Aspekte ihrer Lebensgeschichte – so doch ihren Ton und Stil teilen), der noch kein belletristisches Buch auf den Markt gebracht hat, nimmt Proust und Joyce als Maßstab für seine Methoden – und verwirft ihr Vorgehen als ungeeignet. Seinen Stil misst er an den antiken Autoren – nachvollziehen kann man das vermutlich nur anhand der Originalausgabe, die Übertragung von Moshe Kahn jedenfalls liest sich elegant und rund. Die Ansprüche und Maßstäbe wirken weder anmaßend noch überheblich, sondern begründet selbstbewusst, wenn er im dritten Kapitel von seinen literarischen Konstruktionsideen berichtet.

Für mich ist es ein Phänomen, wie Giovene aus den Einzelteilen seines Lebens, fünfundzwanzig Kapitel insgesamt, ein gut zu lesendes und interessantes Werk macht, obwohl sich die Puzzlesteine so gar nicht zu einer stringenten Story fügen wollen. Es bleiben Fragmente, auch wenn er sie behaut und verbiegt, wie er es literarisch braucht, stehen sie doch für sich – und als letzte fulminante und ewige These bleibt, dass alles Leben am Ende Stückwerk ist.

Revolution dank Kindergeld

Jan 2024 – Die Politik debattiert derzeit, wie man Familien mit Kindern am besten unterstützen kann. Die einen – im wesentlichen die SPD, lautstark applaudiert von den Sozialverbänden und allem, was sich als links versteht – wollen das Kindergeld erhöhen. “Nicht zu bezahlen!”, rufen die anderen. in der Regierungskoalition vertreten durch die FDP. Sie schlagen vor, statt dessen den Kinderfreibetrag zu erhöhen und damit die Steuerlast von Familien zu reduzieren. “Das hilft nur den Reichen!”, halten SPD & Co entgegen.

Recht haben beide – finde ich.

Es ist der einfachste und kostengünstigste Weg, an sozialen Lasten und Hilfen zu drehen, wenn man das über die Einkommensteuer abwickelt. Denn fast jeder von uns gibt eine Einkommensteuererklärung ab, einmal im Jahr machen wir Kassensturz mit dem Staat. Wir liefern alle Informationen zu steuerrelevanten Ein- und Ausgaben, das Finanzamt (also: der Staat) errechnet dann mit einer eingermaßen komplizierten Formel, wieviel wir zahlen mussten und wieviel wir an Steuern tatsächlich gezahlt haben – und die Differnez wird dann als Nachzahlung eingefordert oder als Steuerrückerstattung ausgezahlt. Wenn man in dieser Formel Freibeträge, Bemessungsgrenzen oder Prozentsätze ändert, kostet das praktisch nichts, es ist derselbe Prozess, nur kommen halt andere Werte raus, und so kann man die Bürger_innen im Handumdrehen nach bestimmten Kriterien be- oder entlasten.

Der andere Weg, den Leuten etwas Gutes zu tun, sind die Transferzahlungen. Diese Alternative erleben wir jedes Mal, wenn der Staat wieder beschließt, dass in einer akuten Situation speziell Bedürftige Hilfe brauchen: Heizkostenzuschuss, Lernmittelhilfe, Wohngeld, Inflationsausgleich, ganz egal was. Schnell und unbürokratisch soll ein entsprechender Betrag direkt an die entsprechend Bedürftigen gezahlt werden, erzählen dann Kanzler und Sozialminister ganz stolz im Fernsehen. Aber natürlich nur an die Bedürftigen, es darf nur ja niemand von der Wohltat profitieren, für den sie gar nicht gedacht ist! Diese Einschränkung ist – gerade in Deutschland – superwichtig! Das wiederum bedeutet, dass die Bedürftigen belegen müssen, dass sie bedürftig sind, und schon haben wir ein kompliziertes Antragsverfahren, wo die Leute mühsam Nachweise beibringen müssen, die dann sorgfältig geprüft werden, und in Nullkommanix wächst bei den Sozialämtern ein neuer bürokratischer Aktenberg, dessen Verwaltung viel mehr kostet, als die eigentliche Unterstützung bringt.

Die Idee mit den steuerlichen Parametern ist also weitaus effizienter. Sie hat nur zwei Haken. Zum einen erreicht sie nicht die Bedürftigsten, jene, die so wenig einnehmen, dass sie gar keine Steuern zahlen, alle diejenigen, die nur am Tropf des Bürgergeldes oder anderer Transferleistungen hängen.

Außerdem spielt der Faktor Zeit eine Rolle, die mir in der ganzen Diskussion komplett unter den Tisch zu fallen scheint. Reich sein heißt nämlich auch, flexibel sein und längerfristig planen zu können, Reserven zu haben, die man heute oder morgen heben kann. Arm sein bedeutet dagegen, von der Hand im Mund zu leben, keine Alternativen zu haben und nur von Tag zu Tag wirtschaften zu können. Ein paar hundert Euro, die hoffentlich mit der Steuer im nächsten Februar in Aussicht sind, helfen der alleinerziehenden Mutter nicht, die im September nicht weiß, woher die Winterklamotten für die Kinder kommen werden und was sie zum Monatsende den Kleinen als Brotzeit in die Schule mitgeben soll.

Soweit die Lage. Eins aber verstehe ich nicht: Warum ist noch niemand auf die Idee gekommen, das fiskale Instrumentarium der FDP mit den Zielen der Sozialdemokraten und Linken zu verheiraten? Alle reden von Entlastung über die Steuererklärung, könnte man nicht auch die Daumenschrauben anziehen für die, die viel haben?

Dieser Gedanke ist mir bei der Diskussion ums Kindergeld gekommen. Ich persönlich bin nämlich gegen eine Erhöhung. Jedenfalls nicht für alle. Mir geht es finanziell vergleichsweise gut, ich habe keine materiellen Sorgen, ich brauche daher auch kein höheres Kindergeld vom Staat. Das Kindergeld ist ein Musterbeispiel für eine der wenigen wahrhaft sozialistischen Wohltaten, die es in Deutschland gibt. Jeder bekommt es, der Kinder hat. Man sagt der Familienkasse einfach, dass man ein Kind bekommen hat, gibt seine Kontonummer an – und von da an fließen einem achtzehn Jahre lang (sogar länger, wenn das Kind in Ausbildung ist) Monat für Monat pünktlichst zum Ersten ein paar hundert Euro Staatszuschuss zu. Keine Nachweise, keine Belege, keine Prüfungen, unbürokratisch, großartig. Für viele Familien mit wenig Einkommen ist das Kindergeld ein ganz wesentlicher Beitrag zum monatlichen Budget.

Wie gesagt, jeder bekommt es. Deshalb kostet es den Staat eine ganze Menge Geld – rund fünfzig Milliarden Euro jährlich. Und, ganz ehrlich: Nicht jeder braucht es. Fußballprofis, Medienstars, Thomas Müller (hat der Kinder? keine Ahnung) und Günther Jauch; Herr Aldi und Frau BMW, DAX-Vorstände und Radiologen mit eigener Praxis – die kommen auch ganz gut ohne über die Runden.

Nun sind meine Familie und ich einkommensmäßig Lichtjahre von Günther Jauch oder Thomas Müller entfernt, aber wenn ich ehrlich bin: Angewiesen aufs Kindergeld sind wird nicht; jedenfalls ist es nicht so, dass wir jetzt nach einer Erhöhung lechzen würden. Und – da ich an das herrlich einfache Konstrukt der Auszahlung nicht rangehen will – frage ich mich nun, warum der Staat sich von den Reichen nichts zurückholt? Einfach über die Steuererklärung. Ab hunderttausend im Jahr zwanzig Prozent, ab zweihunderttausend fünfzig – und wer mehr als dreihunderttausend Euro pro Jahr versteuert, muss das Kindergeld ganz zurückzahlen – im Rahmen des Kassensturzes bei der Einkommensteuer. Ich fände das fair. Und ich würde dieses Mittel überhaupt viel öfter anwenden wollen: Erstmal die Wohltat einfach und schnell an alle auszahlen; die Armen dürfen behalten, was sie bekommen haben, von den Wohlhabenden holen wir es uns schrittweise zurück. Kaum Mehraufwand, ein kostengünstiger Weg – und er erscheint mir sozial gerecht.

Natürlich steckt der Teufel im Detail, natürlich werden zwei oder drei ganz Schlaue eine Masche finden, erst einzusacken und sich dann für so arm zu erklären, dass nichts mehr zurückzuholen ist, natürlich wird einer von tausend sich mit dem ungerechtfertigten Kindergeld auf die Bahamas verpieseln und dem Steuereintreiber durch die Lappen gehen. Aber einen Versuch wäre es trotzdem wert, finde ich.

“Allen, die feiern …”

“Allen, die feiern, frohe Weihnachten! Allen anderen erholsame Feiertage!” So oder so ähnlich lese ich in diesem Jahr viele Weihnachtsgrüße. In Zeiten kultureller Diversität und Achtsamkeit im Umgang mit anderen Weltanschauungen will man in kein Fettnäpfchen treten.

Mir erscheint das unnötig. Mir (immer noch bereitwillig zahlendes Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern) tritt niemand auf die Zehen, der mir Grüße für fremde Feste sendet, egal ob im Zuge eines breit verschickten Posts oder Mails oder im persönlichen Umgang. “Frohes Zuckerfest!” – Danke, sage ich da, bin zwar kein Moslem, aber ich freue mich immer über einen guten Wunsch! Wie sollte ich eingeschnappt sein?

Im Gegenteil: Wenn mir jemand etwas Gutes wünscht, so, wie er das mit den Seinen tut, fühle ich mich eingeschlossen und aufgenommen. Also wünscht mir gerne frohe Opferfeste, Rosch Haschanah, was immer es gibt, das bei euch groß gefeiert wird. Und freut euch ebenso, wenn ich wohlgemeinte Grüße zu Weihnachten, Ostern und dem abendländischen Neujahr entsende.

Ich hab auch noch nie jemanden getroffen, der mir zu verstehen gegeben hätte, meine Wünsche seien unpassend. Im Gegenteil, ich weiß von türkischen Familien, die zu Weihnachten auch ein Bäumchen haben und Geschenke machen, einfach weil es alle tun, ohne besonderen religiösen Hintergrund – und seien wir ehrlich: Der ursprüngliche christliche Anlass des Festes ist auch bei den meisten Alteingesessenen längst verblasst und vergessen.

Wo ich mich allerdings selbst zurücknehme, ist, meinerseits Grüße zu fremden Festen zu entbieten. Da schränke ich meistens ein, an wen meine Grüße gerichtet sind – einfach, weil ich niemanden verwirren möchte. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als sähe ich mich als Teil jener Religion und Kultur, deren Vertreter_innen ich meine Grüße sende.

In diesem Sinne hoffe ich, Sie alle hatten ein schönes Weihnachtsfest und wünsche Ihnen ein gesundes, friedliches und gerechtes Jahr 2024.

Altern: In Würde oder mit Zähneklappern?

Auf Bluesky begegnete mir eine Frage, die auf den ersten Blick banal erschien, mich dann aber doch länger beschäftigte, als ich gedacht hätte.

Erste Reaktion ist Abwehrreflex. Denn bei dem Thema ist man schließlich nicht kompetent mit Mitte Fünfzig, da steht man in den besten Jahren, da hat man das Beste noch vor sich, da … Ja, merkense selber, ne?

Also, erste Erkenntnis: Das Älterwerden ist ein dynamisch fortlaufender Prozess, der einen früher ereilt, als man denkt. Eigentlich beginnt es bereits im Teenageralter, wenn man kein Kind mehr ist und kann – wie ich anhand meiner eigenen Kinder weiß – durchaus in zartem Alter schon zu Nostalgie und Vergangenheitsverklärung führen.

Die Zeit vergeht kontinuierlich, man wird immer älter, aber diesen einen Brief vom Senioren-Hogwarts (“Herzlichen Glückwunsch, laut unseren Unterlagen sind Sie jetzt alt, melden Sie sich doch bitte zum Zauberrollatorkurs!”), den gibt es nicht. Klar, da sind markante Punkte, die einen unerbittlich erinnern, dass man sich nicht aus dem allgemeinen Fortschreiten der Jahre rausmogeln kann, auch wenn man sich viel jünger und spritziger fühlt als der Rest des eigenen Jahrgangs: runde Geburtstage, Krebsvorsorgetermine (oder das Drücken um diese), die erste Lesebrille.

Im Grunde sind diese Meilensteine deshalb so bitter, weil sie ein Memento Mori darstellen, das Bewusstsein, es geht dahin, unvermeidlich dem Tode entgegen. Und der entscheidende Faktor, wie man damit umgeht, ist wohl die Einstellung zum Sterben: Wieviel Angst hat man? Wie sehr stiehlt sich diese dauernde Todesangst in die Gedanken? Wie heftig versucht man zu verdrängen?

Und ich selbst, fragen Sie jetzt? Da hebe ich die Schultern und plustere etwas hilflos die Backen auf. Mal so, mal so, würde ich sagen, aber die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit ist in meiner jetzigen Lebensphase auch nicht schmerzhafter als in meiner Jugend, und definitiv nicht so hart wie zu dem Zeitpunkt, wo sie mir zum ersten Mal in aller Härte bewusst wurde (das war so mit neun, und es war richtig schlimm).

Dass der Körper verwelkt, ist nicht schön, aber es geht so allmählich, dass man sich dran gewöhnt. Ich zumindest. Na gut, Ganzkörperspiegel sind keine gute Idee, die Haare werden grau und dünn, und an den eigenen Handrücken kann selbst die beste Salbe und der raffinierteste Chirurg nur wenig bewirken, die verraten einen immer. Vielleicht habe ich das Glück, dass ich mich selbst noch nie so besonders schön gefunden habe und das Gefühl kenne, sich mit dem eigenen Aussehen eher abzufinden als mich daran hochzurichten. Als Pubertier waren es (gefühlt) abstehende Ohren und empfundene O-Beine, heute sind es eben schwabbelnde Hautpartien und faltige Mundwinkel, die mich an mir stören.

Was ich zunehmend kritisch finde, ist mein Blick auf andere. Der altert nämlich leider gar nicht. Ich finde knackige Zwanzigjährige nach wie vor deutlich ansprechender als Matronen in den Fünfzigern. Das war normal, als ich selbst fünfzehn, zwanzig, dreißig war, aber von Jahr zu Jahr muss ich mein Empfinden mehr verbergen, muss ich nach außen verheimlichen, wenn ich einen jungen Menschen attraktiv finde. Es gehört sich nämlich nicht. Die widerlichen alten Säcke, die sich als Sugardaddys junge Gespielinnen kaufen oder in der Kneipe der studentischen Bedienung anzügliche Sprüche hinterherrufen – die fand ich auch schlimm, als ich jung war. Heute sehe ich sie durch die Brille eines zunehmend alten Mannes, und ich kann die alten Zausel verstehen. Diese plumpen, chancenlosen Avancen sind für mich eher der rührenden Ausdruck der Hilflosigkeit der Alten – und die Abscheu, mit der die Jugend sie zurückweist, hat etwas von hohem Ross.

Um mir moralische Anwürfe zu sparen, sei gesagt, dass ich mir umgekehrt auch keine Illusionen mache, wie ich vor den Augen meiner Zeitgenossen dastehe: Die werden Harry Styles oder sonst irgendeinen sexy Jungspund auch geiler finden als mich, und das dürfen sie selbstverständlich auch.

Im Spiel um Anziehungskraft und Paarung rutscht man halt mit jedem Lebensjahr ein bisschen zurück. Irgendwann kickt man in der Bezirks- oder Kreisliga gegen die anderen ungelenken Hackstöcke und denkt mit Wehmut an die Jahre, als man im Profibereich aufgelaufen ist und von der Champions League geträumt hat. Das tut dann einfach weh.

Wo wir von unwürdigem Verhalten reden: Im Alter stellt sich auch unweigerlich die Frage, wie man es mit zeitgenössischer Musik und Trends hält. Es gibt diese Alten (und wieder: alt beginnt schon recht früh, gerade in diesem Fall!), die zwanghaft “mithalten” wollen mit der Zeit und dranbleiben an allen musikalischen Trends. Menschen, die Keith Richards noch als jungen Mann gesehen und den Aufstieg von Depeche Mode selbst miterlebt haben, aber jetzt immer noch an den neuesten Trends hängen und am Puls der Zeit bleiben wollen. Die scannen Radio und Spotify nach den vermeintlich letzten Trends und teilen ihr Wissen mit stolzer Begierde, wenn sie mal mit der Jugend ins Gespräch kommen. Peinlich, sowas.

Andererseits ist es aber auch ignorant, sich völlig auszuklinken, schließlich ist Popmusik Teil unserer allgegenwärtigen Gegenwartskultur. Wer nicht weiß, wer oder was Billie Eilish ist oder warum es schwieriger ist, an Konzertkarten für Taylor Swift zu kommen als an einem Samstag im Mai 1986 ins P1, der gilt – zurecht – als verknöchert und ignorant. Ich jedenfalls finde das Anbiedern schlimmer als das konsequente Ausklinken, schließlich sucht sich die Jugend ihre Musik auch und gerade in bewusster Abgrenzung zu uns Alten. Man stelle sich vor, damals beim Sex-Pistols-Konzert 1979 wäre man jemandem Ü50 begegnet, der den Bierbauch unter der Lederjacke zu verbergen suchte und die schütteren Resthaare zum Pseudo-Iro à la Urban Priol geliftet hat. Eine grauenerregende Vorstellung!

Das gleiche Dilemma finden wir beim Anziehen. Wenn der Zeitpunkt noch nicht gekommen ist, sich in beige Übergangsjacken und Steppwesten zu hüllen, aber man eben auch keine Zwanzig mehr ist, macht man die Trends der Mode noch mit? Ab wann ist der Zeitpunkt, den jährlichen und saisonalen Wechseln der Kleidungstrends Adieu zu sagen? Es begegnen einem ja immer Leute auf der Straße, wo man sich denkt: “Ach, alter Junge / altes Mädchen, dir hätte vielleicht mal jemand Wohlwollender sagen sollen, dass du aus dem Alter für diese Röcke / Hosen / Shirts echt raus bist.” Aber man will ja auch keiner aus dem Meer der beigen Rentner sein. Ich für mein Teil ziehe in Zweifelsfragen (“Geht das? Bin ich da nicht zu alt dafür?” oder “Geht das? Oder seh ich da aus wie son alter Sack?”) meine halbwüchsigen und entsprechend modebewussten Kinder zu Rate, für irgendwas müssen sie ja gut sein.

Auf die Altersweisheit allerdings warte ich bislang vergebens. Leiderleider: Man wird nicht spürbar klüger mit den Jahren, also ich zumindest nicht. Klar, man hat mehr gelesen als mit zwanzig, einem sind Themen begegnet, die man als junger Mensch noch nicht kannte. Dafür verblasst das ungenutzte Wissen aus der Schul- und Studienzeit mehr und mehr, ich beobachte an mir, dass ich mich immer schlechter auskenne in den Gebieten, die mich nicht sonderlich interessieren.

Im Umgang mit Menschen hingegen hilft nach meinem Empfinden die eigene Erfahrung, beim Einordnen, beim Wegspeichern. Man hat schon viele Narzissten wüten gesehen, man wird nicht zum ersten Mal vermeintlich grundlos zu Boden geschrien, betrogen und belogen, enttäuscht und beglückt. Man kann vergleichen, man weiß, beim letzten Mal hat mans auch überlebt. Im emotionalen, zwischenmenschlichen Bereich hat es schon sein Wahres, dieses “the first cut is the deepest”. Es wächst tatsächlich sowas wie seelische Hornhaut.

Die Erfahrung mag da eine gewisse innere Gelassenheit mit sich bringen, die Fähigkeit, dass einen nicht jedes Schachtelteufelchen gleich auf die Palme bringt. Diese Entspanntheit bezieht sich für mich auch auf Aufregerthemen im Feld der Politik oder im Tagesgeschehen. Das tut gut, und es ist für mich auch der wesentliche Grund, mich nicht mehr in mein jüngeres Ich zurückzuwünschen.

Andererseits könnte man es auch Abgestumpftheit nennen, und es kommt wahrscheinlich nicht von ungefähr, dass Eltern und Großeltern es so genießen, wenn Kinder Weihnachten zum ersten Mal bewusst erleben, den Baum, die Geschenke, die Lieder. Dieses freudige Staunen, das hat man nur, wenn mans nicht besser weiß, nicht schon dreißig, vierzig, fünfzig Mal erlebt hat. Und diese staunende Neugierde, dieser unverbaute Blick auf die Welt und die Zukunft, der ist ein Privileg der Jugend, dessen Verlust einem erst klar wird, wenn er schon lange zurück liegt.

Gaza und die Staatsräson

Nov 2023 – Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat sich auf YouTube zum Antisemitismus geäußert, zur Lage in Gaza und Deutschlands Verhältnis dazu.

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Habeck hat (zurecht, wie ich finde) viel Lob geerntet für seine Worte. Man nickt, man stimmt ihm zu – und fragt sich höchstens, wofür die Bundesrepublik eigentlich das Gehalt von Olaf Scholz bezahlt.

Mich hat an seiner Rede nur der Satz gestört, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson. Diesen markigen Spruch hat vor ein paar Jahren Angela Merkel zum ersten Mal geschmiedet und seither ist er so ein Sonntagsredenmantra geworden. Jedoch: Bei aller Liebe, diese Behauptung ist Blödsinn!

Sie klingt zwar entschlossen, normativ und kompromisslos, aber zu bedeuten hat sie nichts. Sie hat jedenfalls keinen offiziellen Charakter. Denn wenn Sie ins Grundgesetz schauen und in die anderen Gesetze und Verordnungen unseres Landes, werden Sie nirgends ein Wort finden, das die Existenz der Bundesrepublik an die Sicherheit Israels koppelt. Die vermeintliche Staatsräson ist eine rein politische Maxime, eine Leitlinie, eine Art Doktrin, wenn man so will.

Und wenn wir ehrlich sind, wird diese Doktrin auch praktisch nie etwas ändern. Als vor einigen Jahren Afghanistan zurück in die bestialischen Krallen der Taliban gefallen ist, war das ein Desaster für die Menschlichkeit. Afghanistan ist ins Dunkel gestürzt, Millionen Frauen, Millionen aufgeschlossener Menschen wurden in einen brutalen steinzeitlichen Islamistenkerker geworfen, ohne Bildungschancen, Gleichberechtigung, Menschenwürde. Der Westen hat – als militärisch gebranntes Kind – erkannt, einen weiteren teuren Krieg am Hindukusch verloren zu haben. Wir haben die Schultern gezuckt, ein paar Hilfszahlungen umgeleitet und sind zur Tagesordnung übergegangen, obwohl die große Uhr der Zivilisation eben auf Winterzeit zurückgestellt wurde.

Sollte Israel den fortdauernden militärischen Kampf mit seinen Feinden verlieren und in die Hände der Araber fallen, wäre das ebenso fürchterlich. Im Falle Israels würde es vermutlich aus dem Westen (speziell von den USA) ein wenig mehr aktive militärische Unterstützung geben als in Afghanistan, das schon, aber das Abendland wird auch davon nicht untergehen. Zumindest wird sich niemand in Berlin hinstellen und nun konsequenterweise auch das Ende der Bundesrepublik Deutschland verkünden. Wahrscheinlich schicken wir Deutschen in diesem Ernstfall nicht mal Soldaten ins Heilige Land (das gibt das Grundgesetz nicht her, und Israel ist schließlich nicht in der Nato), sondern wir senden ein Feldlazarett, gestatten den Amis die Nutzung deutscher Fliegerhorste und Luftkorridore und schicken ein paar warme Worte hinterher. Weil Israels Wohl und Wehe eben doch nicht deutsche Staatsräson ist, egal was Frau Merkel behauptet.

Denn die besondere Verantwortung, die viele in Deutschland für Israel empfinden, rührt – wie Habeck richtig gesagt hat – aus historischer Schuld. Unsere Großväter haben sich daran gemacht, die Juden Europas zu vernichten, und wir schämen uns dafür. Das ist menschlich und moralisch einwandfrei, ich würde sogar sagen: hoffentlich unvermeidlich, aber es darf keine Leitlinie für die Außenpolitik des Landes bilden.

Gefühle wie Schuld, Scham, Zuneigung, Freundschaft können Menschen untereinander empfinden, auch politisch agierende Menschen. Barack Obama und Angela Merkel mögen Freunde sein, unsere Länder können es nicht. Als es den USA – unserem mächtigsten und stärksten Verbündeten – opportun erschien, haben sie das Handy der deutschen Bundeskanzlerin gehackt. Unter Freunden tut man so was nicht, aber die amerikanischen Geheimdienste machten es trotzdem. Weil sie es konnten und es in ihrem Interesse lag.

Nein, Emotionen lassen wir da besser beiseite. Es regiere die Ratio! Grundwerte und Interessen sollen die Politik leiten, die Außenpolitik insbesondere. Entscheidend ist, was hinten rauskommt, das wusste schon Helmut Kohl, und wenn wir die Werte und die Interesssen Deutschlands ansehen, kommt interessanterweise am Ende auch keine andere Haltung zu Israel heraus, als wenn wir uns durch historische Schuldgefühle verpflichtet fühlen.

Warum sollte Deutschland an der Seite Israels in diesem Konflikt stehen?

Israel ist weit und breit die einzige rechtsstaatlich gefestigte Demokratie im Nahen Osten. Nirgendwo sonst müssen die Regierenden fürchten, Wahlen zu verlieren, nirgendwo sonst ist der Ausgang von Wahlen vorher so unsicher wie in Israel. Zehntausende durften protestieren und haben protestiert, als die Regierung Netanyahu mit ihrer Justizreform die Rechtsstaatlichkeit des Landes in Frage gestellt hat. Die Israelis halten derzeit im akuten Kampfzustand Burgfrieden, aber danach stehen der konservativ-rechtsextremen Regierungskoalition schwere Zeiten bevor. Die demokratischen Kontrollinstanzen funktionieren also, und das ist in unserem Sinne.

Auch kulturell steht uns Israel mit seiner Bevölkerung, die stark durch Einwanderung aus Europa geprägt ist, näher als viele andere Länder der Region, deren archaische Beduinenmentalität weit von der unseren entfernt zu sein scheint.

Und wenn wir von ökonomischen Interessen reden, dürfen wir in den Ring werfen, dass Israel auch ohne Ölvorkommen bei uns in so einigen Wirtschaftszweigen (IT, Pharma, Rüstung) als Lieferant und Abnehmer ein geschätzter Handelspartner ist und seine Bildungseinrichtungen international hoch anerkannt werden.

Und die andere Seite? Die Hamas? Eine religiös verbohrte Nihilistensekte, der es nicht ums Wohl des eigenen Volkes geht, sondern die in irgendwelchen Märtyrerfantasien schwelgt und die Region brennen sehen will, weil das den Juden schadet. Fanatisierte Kämpfer, die Greueltaten an Zivilisten begehen, Babys ermorden, Frauen vergewaltigen, enthaupten, zerstückeln. Wirtschaftlich bekommen sie nichts gebacken, sie leben von Zuwendungen aus den Golfstaaten und der EU, die sie für Waffen und Raketen ausgeben und für die protzigen Villen ihrer Führer. Bildung heißt für sie, Koransuren auswendig zu lernen und die hasserfüllten Propagandasprüche ihrer Scheichs nachzuplappern.

Was aber, fragen Sie jetzt vielleicht, ist mit dem Volk in Gaza? Jenen vielbeschworenen normalen Leuten, die einfach nur in Frieden ihr Leben führen wollen und die jetzt aus ihren Wohnungen fliehen mussten und denen die israelischen Granaten um die Ohren fliegen, obwohl sie mit diesem Krieg nichts zu tun haben?

Ich fürchte, die Menschen in Gaza zahlen gerade den Preis dafür, dass sie nicht rechtzeitig gegen das Böse aufgestanden sind. Als die Hamas die Macht in Gaza übernahm, haben die Menschen es geschehen lassen. Als die Hilfsgelder mehr und mehr in dunkle Kanäle flossen, ist niemand aufgestanden und hat protestiert. Die Hamas hat Gaza untertunnelt und keinen hat’s gestört. Die Terroristen haben jahrelang Raketen auf Israel abgefeuert, auch von Kinderspielplätzen und Schulhöfen aus – unbehindert und ungestört von denen, die doch ihren Frieden haben wollten. Die Hamas konnte ihre Einsatzzentrale direkt neben der Frühchen-Station des Krankenhauses einrichten, Munition und Waffen gezielt da lagern, wo ganz normale verletzliche Menschen leben. Das ist zum einen perfide Taktik der Hamas, aber auch sträfliches Wegsehen und Mundhalten derer, die nicht der selbstzerstörerischen Islamistenideologie folgen wollen. Wer nicht als Märtyrer mitgerissen werden will, muss eben vorher Zivilcourage zeigen. (Das sagt sich leicht, wenn man weit weg ist, keine freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Bande hat und in keine bitteren Loyalitätskonflikte gestürzt wird, das ist mir schon klar, aber nur weil es mir gutgeht, kann ich die Palästinenser_innen ja nicht aus ihrer moralischen Pflicht entlassen!)

Wie weit die israelische Armee noch gehen wird, um die Hamas-Infrastruktur zu zerstören, ist derzeit offen. Aber es sieht für mich danach aus, als würde Nordgaza komplett plattgemacht, um so eine Art Sicherheitspuffer zu schaffen, ein streng bewachtes planiertes Niemandsland, das den Israelis ein paar Minuten mehr Reaktionszeit kauft, wenn wieder und weiter arabische Raketen aus Gaza nach Norden gefeuert werden. Die verbliebenen Menschen müssten sich dann noch dichter als bisher im Süden des Gazastreifens zusammendrängen, wenn sich nicht irgendein arabischer Bruderstaat findet, der ihnen eine Heimstatt schenkt. (Natürlich werden die arabischen Brüder, die jetzt ihre Krokodilstränen über das Leid in Gaza vergießen, einen Teufel tun, und sich diese explosive Mischpoke ans Bein binden! Sie sind verbohrt und fanatisch, aber nicht blöd.)

Vielleicht, aber nur ganz vielleicht, ist das ja doch der Anlass, dass das palästinensische Volk sich in seiner friedliebenden Mehrheit auf sein eigenes Wohl besinnt, seine radikalen Bombenleger zum Teufel jagt und sich auf eine friedliche nachbarschaftliche Koexistenz mit Israel einlässt, wie Arafat und Peres es 1993 vereinbart haben. Nein, lassen Sie mich! Man wird doch noch träumen dürfen!

Wie hältst du’s mit der Religion?

Nov 2023 – Marina Weisband hat was losgetreten auf Bluesky:

Religiosität ist ja letztlich nichts anderes, als die Frage, wo man sich selbst und seinesgleichen auf der Geilheitsleiter platziert. Atheisten sehen sich ganz oben: “Gibt nix Geileres als mich / uns!” Gläubige sind da auf den ersten Blick bescheidener. Die sagen, sie wissen ganz genau, wer ganz oben auf der Leiter thront – und der/die/dasjenige hat ihnen auch verraten, was sie konkret zu tun haben, um auf der Leiter ein oder zwei Sprossen weiter empor in Richtung Megageilheit zu gelangen. Agnostiker schließlich sehen eine Sprosse und zwei Holme, aber können nicht sagen, ob es tatsächlich eine Leiter ist, auf der sie stehen. Ausschließen wollen sie’s nicht, und wer oben steht, können sie auch nicht ausmachen.

Und ich? Bin ziemlich von einer Leiter überzeugt. Es würde mich allerdings sehr wundern, wenn ausgerechnet ich ganz oben stehen sollte. Den Typen über mir hab ich noch nie gesehen. Was zu tun ist, um weiter hoch zu kommen (will ich das überhaupt?), behaupten immer nur die anderen zu wissen, die mit mir auf der Leiter stehen, jeder etwas anderes. Ich aber bin schon dankbar, wenn der Typ ganz oben mir nicht auf den Kopf kackt.

Von Zahnärzten und Friseuren (2/2)

Oct 2023 – Im Gegensatz zum Zahnarzt gehen die meisten Menschen, die ich kenne, nicht ungern zum Friseur. Das ist nachvollziehbar: An den Haaren haben wir (außer an den Wurzeln) schließlich keine Nerven, die Schmerzen verursachen könnten; deshalb tut es auch nicht weh, wenn jemand mit Schere, Brenneisen oder Chemikalien zum Färben, Kräuseln oder Glätten an unserem Haarschopf zu Werke geht.

Im Gegenteil, sagen viele. Es ist angenehm, den Kopf mit warmem Wasser abbrausen zu lassen, es tut gut, wenn die Friseurin mit sanftem Druck das Shampoo einmassiert, und hinterher sieht man in der Regel einen deutlichen Unterschied. Manche Leute sollen sogar wegen dieser Effekte einfach so zum Friseur gehen, wenn es ihnen nicht gut geht und sie unzufrieden mit sich selbst sind – selbst wenn der Zustand der Frisur das nicht unbedingt erfordern würde. Ein Wohlfühlprogramm, wenn jemand einem den Kopf wäscht und neu herrichtet. Manchmal auch der Wunsch nach einem neuen Look durch eine neue Frisur: Als Phoenix kommt man verwandelt und wie neugeboren wieder und überlässt das alte elende Ich in Form der abgeschnittenen Haarspitzen, die im Friseursalon vom Boden zusammengekehrt werden müssen.

Ich gehe nicht gern zum Friseur. Einmal weil ich befürchte, in unangenehme Konversation gezwungen zu werden Aus dem gleichen Grund fahre ich nicht gerne Taxi; ich sitze da und bin dem Gelaber der Dienstleister ausgesetzt, die über Belangloses schwadronieren, wenn ich Glück habe, aber im schlimmsten Falle zu jenem Fünftel bis Drittel meiner Mitmenschen zählen, deren Weltsicht ich zum Kotzen finde. Das sind dann die, die erst anfangen über Flüchtlinge und Ausländer zu jammern, um mir irgendwann mit gesenkter Stimme die Geheimnisse hinter der Coronaseuche und dem Zusammenhang mit dem israelischen Geheimdienst zu verraten. Ich aber bin bequem und feige und habe einfach nicht die Energie und erst recht keine Lust, dem ganzen Rhabarber so vehement entgegenzutreten, wie ich das sollte. Und außerdem muss ich mir dann konsequenterweise ein anderes Taxi und einen neuen Friseur suchen, und deshalb bete ich, dass sie einfach ihren Mund halten und mir die Illusion bewahren, dass sie ganz normale, leidlich vernünftig denkende Menschen sind wie ich. Die Sorge verleidet mir allein den Genuss von Kopfhautmassage und warmem Wasser. Da ist es sogar beim Zahnarzt besser, der redet – wenn überhaupt – nur über das, was er gerade macht und warnt mich, wenns weh tun könnte und sagt mir, dass ich jetzt ausspucken darf.

Zudem stehe ich mir beim Friseur selbst im Weg. Immer schon. Ich bin einfach zu eitel für richtiges Haareschneiden. Das ging schon los, als ich kaum mehr als ein Kind war. Ich saß da auf dem Stuhl, den blauen Kunstseideumhang um den Hals und über den Schultern, mit dem angelegten Kragen aus abgerissenem Krepppapier, die langen Haare pappten noch nass vom Waschen am Kopf, und ich sollte nun sagen, wie ich sie geschnitten haben wollte. Eigentlich wusste ich das ganz genau: Ich wollte so aussehen wie Simon Le Bon in der ‘Bravo’. (Falls Sie nach 1975 geboren sind: Simon Le Bon (kein Pseudonym! Der heißt wirklich so!) war Sänger einer Band mit Namen Duran Duran, die in den Achtzigern recht angesagt war und sogar einen James-Bond-Film betitelsingen durften. Ist aber nicht schlimm, wenn Sie die nicht kennen!) Wenn mir mehr Selbstbewusstsein gegönnt gewesen wäre, hätte ich einfach nur die ‘Bravo’ mit dem Bild von Duran Duran herzeigen müssen und sagen, dass ich meine Haare so haben wollte wie der Sänger – nur ohne Blondierung, die hätten meine Eltern natürlich nie bezahlt, aber darum ging es auch gar nicht. Irgendwie kam das aber gar nicht in Frage, ich wäre eher gestorben, als das zu tun. Allein die Vorstellung, der Friseurin gegenüber zuzugeben, dass ich die ‘Bravo’ las (nur sehr gelegentlich freilich), wäre unerträglich gewesen.

Es ist bis heute so, dass es mir peinlich ist, beim Friseur detaillierte Angaben zu machen, wie ich mir meine Frisur vorstelle. Ich bin so eitel, dass ich nicht eitel erscheinen will. Ich will nicht den Eindruck erwecken, mir stundenlang Gedanken über die Länge und Form meiner Haare zu machen, selbst gegenüber einem Menschen, dessen Beruf es ist, mich und meine Frisur gut aussehen zu lassen! Im Friseursessel bin ich der junge Clint Eastwood, schweigsam und cool, mit Zigarrenstummel im Mund, der zwar unendlich toll aussieht in seinem Poncho (und mit sorgsam frisiertem Haar!) und den wildledernen Cowboystiefeln, aber sich einen Dreck darum schert. Ich schiebe also meine imaginäre Zigarre in den Mundwinkel und knurre knapp und knarrig: “Schneiden. Kurz.” – und dann wundere ich mich, wenn mein Haarschnitt am Ende eben nicht nach dem Blonden im Italowestern oder nach Simon Le Bon aussieht, sondern eher wie Stuckrad-Barre oder Ewan McGregor in ‘Trainspotting’.

Von Zahnärzten und Friseuren (1/2)

Oct 2023 – Die wenigsten Menschen gehen gern zum Zahnarzt, manche haben sogar einen regelrechten Horror davor. Ich habe keine Angst, so richtig schlimm ist es mir noch nie ergangen – gut, zugegeben, ich musste auch noch nie eine Wurzelbehandlung ertragen, und simples Bohren lässt sich ja aushalten. In jedem Fall muss man beim Kontrolltermin nicht mit körperlichen Qualen rechnen, und auch sonst tut die Anästhesie in der Regel gute Wirkung.

Was mich so ungern zum Zahnarzt gehen lässt, ist eigentlich mein schlechtes Gewissen. Ich habe Angst davor, dass er was findet, was nicht in Ordnung ist. Zum einen scheue ich natürlich die darauffolgende Behandlung mit Terminen und Kosten und Umständen. Vor allem aber habe ich Schiss, dass das, was da nicht stimmt, darauf zurückzuführen sein könnte, dass ich nicht ordentlich geputzt habe. Eigentlich bin ich schon diszipliniert, aber man betrügt sich eben selbst, wird nachlässig, und dann ist es halt doch nicht genug, und der Zahnarzt lehnt sich zurück und fragt kritisch nach, wann ich denn immer putze und womit und ob ich auch regelmäßig Zahnseide verwende. Diese Momente habe ich schon erlebt – und vor ihnen graust es mich ganz entsetlich.

Denn mal ehrlich: Zahnhygiene ist generell lästig und extrem unbefriedigend. Man erhält als Kind einen Satz mit Beißern, der wird gegebenenfalls mit Spangen gerade gezogen, wenn er schief gewachsen kommt, aber spätestens dann ist man mit dieser Ausstattung auf sich gestellt. Nichts wächst nach, nichts regeneriert sich von alleine. Sonst hilft sich der Körper bei Beschädigungen in bemerkenswerter Weise selbst: Die blutigsten Hautwunden verschorfen, gerissene Bänder heilen, gebrochene Knochen wachsen wieder zusammen. Wenn sich aber einmal die Karies in den Zahn gefressen hat, wenn die Parodontitis am Zahnfleisch rüttelt, kann man maximal den Schaden noch aufhalten und begrenzen. Das ist doch fürchterlich!

An der Zahnpflege führt also kein Weg vorbei. Sonst werden die Zähne irgendwann gelb und löchrig. Wer in der Mundhygiene nachlässig wird, begibt sich in dieselbe Gefahr wie beim Saufen oder Rauchen: Es gibt keine zwingende Reaktion, manche widerstandsfähige Leute haben Glück und es passiert gar nichts, bei anderen wird es vielleicht ein bisschen dauern, aber die Chance, dass man sich zugrunderichtet, ist groß, und wenn man erst mal vor den Scherben steht – mit kaputter Leber, Lunge – oder eben mit ekligen, dunklen, fauligen, lückenhaften Zahnreihen, dann kommt jede Reue zu spät, dann hat man es verkackt.

Und die Gebisse der anderen sind so oft viel schöner als die eigenen. Ebenmäßig und strahlend weiß, obwohl die Träger am Ende älter sind als wir selbst. Leisen Trost finde ich darin, dass die Chancen gut stehen, dass was da im Fernsehen oder auf der Kinoleinwand porzellanweiß strahlt, auch tatsächlich aus Porzellan oder Keramik ist – und das will man doch eher nicht: Alles abfeilen und künstliche Aufsätze drauf? Was das visuell ausmacht, können Sie ermessen, wenn Sie sich mal den Spaß machen und “From Dusk Till Dawn” ansehen (auch sonst ein sehr empfehlenswerter Film, wenn man auf etwas abseitigen Trash steht!): Da sehen Sie George Clooney noch mit seinen echten Zähnen, die lange nicht so porzellanig strahlen wie sie das in seinen späteren Filmen tun. In “Ein (un)möglicher Härtefall” (auch nett zum Anschauen, so nebenbei) spielt er dann sogar einen Anwalt, der von seinem perfekten Gebiss besessen ist.

Die Pflege des Gebisses ist von der Natur nicht vorgesehen. Die Höhlenmenschen, für deren Existenz wir programmiert sind, lebten nicht so lange, dass der Erhalt der Zähne irgendwie überlebensrelevant gewesen wäre. Entsprechend läuft die Notwendigkeit der Zahnpflege unserer innersten menschlichen Natur zuwider. Nichts belohnt uns nach der Prozedur, kein Orgasmus, kein wohliges Gefühl, voll und satt zu sein, kein Rausch. Auch das äußere Resultat enttäuscht: Wer superbrav und diszipliniert putzt und flosst und gurgelt, wird nicht ersichtlich schöner oder mit einer spürbaren Steigerung seines oder ihres Sexappeals belohnt. Alles, was wir bewirken können, ist, den Status Quo unserer Mundhöhle zu erhalten und den Niedergang zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Das ist verdammt wenig, um sich aufzuraffen und mindestens zweimal am Tag mehrere Minuten im Mund herumzuschrubben.

Das Zähneputzen ist vielleicht das treffendste Sinnbild der bitteren Logik unserer Conditio Humana im Alltag. Wir tun es, aus dem Gefühl von Verantwortung und Pflicht heraus; aus reinen Vernunftgründen überwinden wir den abendlichen Drang, einfach sofort ins Bett zu gehen oder morgens direkt in den Tag zu starten und halten am Waschbecken inne und drücken Pasta auf unsere Zahnbürste und bearbeiten dann Zahn um Zahn, innen, außen, oben, unten, wobei wir währenddessen nichts anderes machen können. Nicht mal aufs Handy schauen funktioniert so richtig. Und alles dafür, dass wir uns einen halben Tag später in der genau gleichen Situation wiederfinden und die Prozedur wiederholen, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Zähneputzen ist wahre Sysiphusarbeit, Albert Camus lässt grüßen. Zwar erleben wir auch anderswo, dass unsere Mühen nur kurzfristig wirken und immer aufs neue wiederholt werden müssen: Beim Staubsaugen und beim Rasenmähen etwa. Kaum ist die Wohnung gesaugt, kommt schon wieder der erste Schmutz. Aber im Gegensatz zur Zahnhygiene dürfen wir uns bei Staub und Gras Aussetzer gönnen. Wenn es uns nicht stört, dass die Wohnung zustaubt, saugen wir halt erst morgen oder nächste Woche wieder. Wenn wir einmal Rasenmähen auslassen, wird es etwas beim nächsten Mal mühsamer, aber es ist nicht richtig schlimm, einmal auszusetzen. Deswegen kommt kein Schimmel in die Wohnung und der Rasen wird auch nicht auf ewig verdorren! Anders im Mund: Die Bakterien, die an unseren Zahnschmelz und in die Taschen unseres Zahnfleisches wandern, nutzen jede sich bietende Gelegenheit zur Zerstörung.

Man kann sich auch nicht freikaufen, einmal einen Batzen Geld in die Hand nehmen und dann für alle Zeiten Ruhe haben; man kann es als wohlhabender Mensch mit wenig freier Zeit nicht outsourcen wie das Staubsaugen oder das Rasenmähen. Kein ausbeutungsbereiter Einwanderer steht bereit, uns diese Bürde für ein geringes Entgelt abzunehmen. Man muss sich selbst hinstellen, und selbst wenn man so reich und dekadent wäre, das Zähneputzen einem Leibdiener zu übertragen, wäre es doch der eigene Mund und die eigene Aufmerksamkeit, die in Anspruch genommen würde. Ums Zähneputzen kommt keiner drum rum, das hat dann schon wieder was Tröstendes, zu wissen, dass auch die reichsten und mächtigsten Arschlöcher zweimal am Tag mit der Bürste vor dem Waschbecken stehen müssen wie wir alle. Selten sind die Menschen einander in ihrem Elend so gleich wie in dem Moment, wo sie die Zahnpasta aus der Tube drücken und seufzend mit dem Putzen beginnen.

Twitter ist tot. Zu Bluesky oder zu Mastodon?

Oct 2023 – Twitter ist also tot. Elon Musk hat es an die Wand gefahren und kaputtgemacht. Schade, aber nicht zu ändern. Hinter der Maske des wunderlichen Innovationsgenies ist die Fratze eines sehr gewöhnlichen Faschisten zum Vorschein gekommen, der die Welt brennen sehen will und deshalb die Plattform ungebremst für Lüge und Hass freigemacht hat.

Dabei finde ich es ein wenig tröstlich, dass dieses Mal der satanische Midas das Unternehmen, für das er 44 Milliarden Dollar hingelegt hat, praktisch in den Konkurs gefahren hat (der derzeitige Börsenwert ist geringer als die Schulden). Vollends schmunzeln macht mich, dass der Soziopath Musk ausgerechnet an einem sozialen Netzwerk gescheitert ist. Möge er weiter stürzen und es ihm mit seinen anderen Unternehmen ähnlich ergehen.

Anständige Menschen jedenfalls wollen nichts mit ihm und seinen hasserfüllten Kumpanen zu tun haben und wenden sich deshalb in Scharen von Twitter / X ab. Aber wohin?

Zwei alternative Netzwerke stehen bereit und buhlen um die Kundschaft: Mastodon und Bluesky. In der Netzgemeinde wird derzeit wild diskutiert, wohin man denn nun ziehen soll.

Technisch ausgereifter ist Mastodon. Mastodon hat eigentlich alles, was man sich nach dem Twitterdebakel als User wünschen könnte: Es ist gemeinnützig, frei, nicht-kommerziell, selbstverwaltet, dezentral. Eine Plattform, ein bisschen wie das Internet selbst. Jeder findet seine Nische, wenn er will; jeder kann entscheiden, mit wem er interagieren will. Wenn einer zusperrt, stehen andere bereit zu übernehmen. Etliche Medienangebote und offizielle Stellen sind bereits umgezogen und verbreiten dort ihre Neuigkeiten.

Vom Look and Feel ist es natürlich nicht so ganz wie Twitter. Einige Twitterschiffbrüchige klagen, dass man sich erst für eine Instanz entscheiden muss, dass einem nicht alles vorgekaut wird. Viele Twitterer werden nicht recht warm mit Mastodon, das Teil einer größeren Logik, des Fediverse, ist, mit dem man den gesamten Social-Media-Bereich abdecken will, inklusive eigener Angebote, die Instagram und Facebook ersetzen sollen.

Ich habe bei den Hürden von Mastodon – und den Einwänden, die die Fans dem entgegensetzen – immer mal wieder so ein Déjà-Vu-Gefühl: Technisch eigentlich geil gemacht, alles berücksichtigt, nur eben die bequeme menschliche Natur nicht, die am liebsten alles so haben will wie immer und dafür erstaunliche Kröten zu schlucken bereit ist.

Die Linux-Nerds unter meinen Informatikerfreunden erzählen dasselbe wie die Mastodonfans, die verstehen auch nicht, wieso man sich Windows unterwirft, das doch scheiße ist und unsicher und böse. Nur für schlichtes Klickibunti wirft man sich stattdessen Microsoft in den Rachen.

Oder TeX. Ein Texterstellungs- und Satzsystem, das ich selbst kenne: Zu meiner Zeit an der Uni habe ich für wissenschaftliche Publikationen mit LaTeX gearbeitet. Tolle Sache, winzige Filegrößen auch für lange Elaborate, die Texte schauen am Ende richtig gut aus, um Längen besser als mit Word; Tabellen und Grafiken einbinden ein Kinderspiel … – Aber man muss halt erst durch die speziellen Prozeduren gehen, bis man soweit ist. Heute schreibe ich meinen Berufskram und meine Schreibereien wieder mit Word, einfach aus Bequemlichkeit und weil es alle tun – und Tabellen habe ich eh keine mehr.

Diese Nischen mit supertollen Speziallösungen (egal ob Linux, Betamax, LaTeX oder andere) sorgen dann auch für ihre eigene Filterung im Benutzerkreis. Unbedarfte User werden abgeschreckt und die Spezialisten übernehmen – mit ihren eigenen Bräuchen und ihrer Sprache. Am Ende fühlt man sich in diesen Nischen als Ottonormalnutzer wie als Corollafahrer beim Oldtimerstammtisch. Du weißt kaum, wo der Tankdeckel deines Autos ist – und die unterhalten sich über Ventilprofile und Vergasermischungen.

Bei Mastodon hat sich ein Publikum gefunden, dem Twitter zu rechts, zu kommerziell, zu suggestiv, zu misogyn und hasserfüllt wurde. Bei Mastodon dagegen gibt es Content Warnings für potenziell verstörende Inhalte, die Bilder soll man bitte beschreiben, um sehbehinderte User nicht auszuschließen. Meine Mastodonblase ist deutlich linker, woker, queerer, sensibler – und deswegen manchmal nerviger als die Leute, die mich früher auf Twitter umgeben haben. Diese Latzhosentypen, die einem gleich mal erklären, dass man hier aber bitte keine Witze macht, die irgendjemanden verletzen könnten (und dieses Kriterium wird von vielen auf Mastodon seeeeehr weit ausgelegt!), die tragen natürlich auch nicht dazu bei, dass die Twitterwitzbolde mit ihrem teils recht groben Sinn für Humor sich eingeladen fühlen.

Ja. Technisch eigentlich total super. Aber ein wenig fitzelig. Und mit ein paar missionierenden Spaßbremsen durchsetzt. Für Social-Media-Unterfangen, die naturgemäß darauf angewiesen sind, dass möglichst alle bei ihnen mitmachen, sind das alles Killerkriterien.

Mastodon hat zudem den Nachteil, dass es die Eitelkeit und Reichweitengier der User nicht befüttert. “Erfolge” von Nachrichten durch Herzchen und Verbreitung werden nicht so prominent gemacht wie bei Twitter. Entsprechend zäh baut sich die eigene Gefolgschaft auf. Bei Twitter reichten zwei oder drei richtige Knallertweets, um Dutzende neuer Follower zu gewinnen. Bei Mastodon kommt das Publikum weit langsamer; für alle, die von schnellem Verbreiten leben, also Promis, Influencer und die Leute aus Politik und Werbung, natürlich ein Albtraum.

Die fühlen sich auf Bluesky besser aufgehoben. Als ich das erste Mal auf dieser Plattform war, hat es mir einen Stich gegeben. Es sah einfach alles so aus wie früher auf Twitter! Es war wie Nachhausekommen! Auch die Leute, die sich schnell einstellten, waren die, die man seit langem auf Twitter kannte und die dann irgendwann abgesprungen oder verstummt waren. Klassentreffen! Weißt du noch? Die alten Insiderwitze wurden ausgepackt und alle sind glücklich, einander wieder gefunden zu haben.

Dabei läuft Bluesky technisch noch mehr als holprig: Es gibt keine Direktnachrichten, keine Listen zum Sortieren dessen, was man lesen will, das Threading der Replies ist irgendwie komisch (bei mir wenigstens). Ein kleines Team scheint da unter viel Mühe Reverse Engineering zu betreiben. Der Datenschutz sei eine Katastrophe, heißt es, und das Ganze läuft obendrein Gefahr, wie Twitter zu sein und wie Twitter kaputtzugehen. Werbung hab ich noch gar keine gesehen, also frage ich mich, wo das erforderliche Geld für Ausbau und Erhalt der Plattform herkommen soll, wenn Jack Dorseys Anteil am Twittererlös verbrannt ist? Zudem bin ich skeptisch, ob ich mich auf das Wohl und Wehe eines sprunghaften Gründers verlassen will. Was wenn Jack Dorsey den Laden in drei Jahren an Donald Trump verkauft – so wie er es mit Twitter und Elon Musk gemacht hat?

Mein Spaßaccount, der auf Twitter zu besten Zeiten immerhin gut vierstellig war (sowohl bei Followern als auch mit Herzchen auf die erfolgreichsten Tweets), ist vor gut einem Jahr bei Twitter verstummt und zu Mastodon umgezogen. Ich hab dort denselben Blödsinn wie vorher von mir gegeben, aber der Erfolg lässt warten: Bei Mastodon warte ich immer noch auf meinen hundertsten Follower. Vor ein paar Wochen kam dann die Einladung zu Buesky, wo mir in kürzester Zeit ungefähr die gleiche Zahl an Leuten gefolgt ist, die ich bei Mastodon sammeln konnte. Auch die Rückmeldungen sind intensiver und positiver. Noch bediene ich beide Plattformen per Copy und paste konsequent parallel (einige andere halten es genau so) und schaue interessiert zu, wo welche Reaktionen erfolgen.

Und die Moral? Und auf lange Sicht? “Auf lange Sicht sind wir alle tot.” Wusste schon John Maynard Keynes. Angeblich.